Der Ötillö gilt als härtestes Rennen in Welt der Swimrun-Events. Im Archipel von Stockholm müssen dafür 75 Kilometer zurückgelegt werden. 65 an Land, 10 im Wasser. Gelaufen wird im Neoprenanzug, geschwommen mit Laufschuhen – und gelitten auf der ganzen Strecke. In Schweden boomt Swimrun seit einigen Jahren gewaltig – und mittlerweile kann man auch in Mitteleuropa hin und wieder Freaks mit Neoprenanzug beim Laufen treffen. Standard-Laufblogger Thomas Rottenberg („Rotte rennt“) war beim Ötillö und sagt: Da kommt was Großes auf uns zu.
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Manchmal ist es toll, zu verlieren. Und manchmal sogar, wenn man es zweimal hintereinander tut. Das meint zumindest Anders Malm. Und so stand der Besitzer und Betreiber des „Värdshus“, einer Hotel- und Ferienhausanlage auf der malerischen Insel Üto am Archipel von und vor Stockholm, Montagnachmittag freudestrahlend auf der Aussichtswiese vor dem Haupthaus der Anlage – und kam aus dem Jubeln gar nicht mehr heraus, als Daniel Hansen und Lelle Moberg ein paar hundert Meter vor Malms Standort auf die Straße vom kleinen (natürlich ebenfalls malerischen) Hafen der Insel herauf zum Hotel bogen. Und zum letzten Sprint ansetzten. „Ich habe jedes Mal wieder eine Gänsehaut“, lachte Malm. „Nicht erst jetzt – sondern seit acht Stunden.“
Denn acht Stunden (genauer: 7:59:04) hatten die beiden Schweden gebraucht, um von Sandhams – einer (natürlich ebenfalls malerischen) Insel vor Stockhom – hierher zu kommen. Acht Stunden für 75 Kilometer. Zu Wasser, zu Lande – und an der frischen Luft. Das, was die beiden Angehörigen des „Adventureteams“ der schwedischen Streitkräfte da hinlegten, hat in der Welt der Hardcore-Ausdauer-Events Kultstatus: „Ötillö“. Ötillö gilt als eine der, wenn nicht DIE härteste Nummer in der in Skandinavien seit ein paar Jahren massiv boomenden Szene der Swimrun-Events.
Ötillö. Das sind 65 Kilometer am Land. Und zehn im Wasser. Allerdings bedeutet „Land“ hier alles, was schwedische Inseln zu bieten haben: Klippen, Felsen, Wald und Wiesen und nur hin und wieder ein bisserl Weg. Und Wasser bedeutet Meer: Mit Wind, Wellen und Strömungen. Mit Temperaturen zwischen 11 und 13 Grad. In Schweden nennt man das „gutes Wetter“. Darum findet der Ötillö ja auch im Sommer statt. Im Schwedischen eben.
Anders Malm hat dieses Rennen verloren. Zweimal hintereinander. Und die Tatsache, dass es damals, vor elf und zehn Jahren, in die andere Richtung ging – also von Üto hinauf nach Sandhamn – lässt der Hotelier nicht als Entschuldigung gelten. „Das ist egal. Wichtig ist, dass wir verloren haben, die Drinks zahlen mussten – und die Andersson-Brüder dann eben stärkere Gegner brauchten.“
Die Geschichte begann, wie so viele, als „b´soffene G´schicht“. Auch wenn das heute anders formuliert wird: Hotelbesitzer Malm saß mit seinem Kumpel Jan Lindeberg und seinen Angestellten, den Brüdern Mats und Jesper Andersson, bei einem Bier. Oder vielleicht auch mehreren. Man endete bei einer Wette: Jenes Zweierteam, das am nächsten (oder übernächsten?) Tag als letztes in Sandhamn ankommen würde, müsste alle Drinks bezahlen.
Stop. Es gab eine Klausel: Auf der Strecke gibt es exakt fünf Wirtshäuser. Wer jeweils zuerst in der Gaststube aufschlüge, sollte für das nachkommende Team bestellen. „Wir wussten, dass wir die erste Etappe gewinnen müssen würden“, lacht Jesper Andersson heute noch, „weil Jan und Anders viel trinkfester sind als wir. Wenn die uns da eine Flasche Wodka hinstellen lassen, dann wäre es vorbei.“ Außerdem „ich bin Feuerwehrmann, mein Bruder ist Seemann und Zimmerer – aber Anders und Jan sind Hoteliers: Wir mussten gewinnen, weil die uns sonst arm gesoffen hätten.“
Und wenn es nicht ganz stimmt, dann ist es zumindest eine schöne Legende. Jedenfalls gewannen die Andersson-Brüder (sie brauchten etwa 24 Stunden) das erste Rennen. Und auch das zweite, im Jahr darauf. Und danach waren die vier Männer von den Inseln (malerisch! wurde das schon erwähnt?) nicht mehr allein unterwegs. Aber „wir hätten daraus nie ein echtes Rennen gemacht – das ist schon eine andere Liga.“
In der spielten aber damals schon zwei andere Schweden Michael Lemmel und Mats Skott. Beide waren lange im schwedischen Skisport fixe Größen, sattelten dann auf „Adventurracing“ um. Und seit 2006 greifen sie den Anderssons nicht bloß unter die Arme, sondern haben aus der „b´soffenen G`schicht“ das gemacht, was sie heute ist: Eines der härtesten Ausdauer-Teamrennen von überhaupt. 75 Kilometer von einer Insel zur nächsten. 65 Kilometer laufen, zehn Kilometer schwimmen. Dass der Archipel und seine Inselwelt malerisch sind, wurde hier ja bereits erwähnt. Nur: Unterwegs bemerkt das kaum einer der Teilnehmer. Und kaum eine der Teilnehmerinnen.
Wofür Ötillö überhaupt steht? Keine Ahnung. Irgendwie war das vor Ort nie Thema. Weil Ötillö eine fixe Größe ist. Ein Standard. Eine Konstante. Bei der nur zählt, was drin ist: 50 mal Wechseln die insgesamt 240 Starterinnen und Starter zwischen Land und Wasser. Der kürzeste Lauf ist 70 Meter, der längste 19,7 Kilometer lang. Die Schwimmstrecken variieren von 100 bis zu 1780 Meter.
Gestartet wird bei Sonnenaufgang und in Zweierteams – auch aus Sicherheitsgründen: Beim Laufen darf man nie mehr als 100, beim Schwimmen nicht mehr als 10 Meter vom Partner entfernt sein. Das per Seil Miteinander-Verbunden-Sein, das zumindest dringend empfohlen wird, ist da weit mehr als eine psychologische Stütze. Nicht nur, weil eine der Schwimmstrecken nicht ohne Grund „Pig Swim“ heißt – und die Strömungen hier so heftig sind, dass man auch dann, wenn man statt direkt auf das Blinklicht am anderen Ufer zu, in einem Winkel von 45 Grad dazu losschwimmt, nie sicher sein kann, wo man ankommen wird. Und man – jawohl – auch beim Schwimmen seekrank werden kann. Und zwar so richtig. Da ist der Partner am Strick dann die Lebensversicherung. Weil die 20 und mehr Patrouillenboote, der Hubschrauber und auch die anderen Teams. („Remember: we are one family. Help other teams as you would expect them to help you“, Mats Skott) eben nie garantieren können, tatsächlich dort zu sein, wo man sie braucht wenn man sie braucht. (Sie sind es aber. Eben weil dass mit der Familie wichtig ist und stimmt.)

120 Teams dürfen teilnehmen. Mehr, sagen die Andersson-Brüder, geht nicht. Nicht, wenn man auf die Bedürfnisse von Umweltschutz und Grundbesitzern Rücksicht nehmen muss. Und will: Wer Müll fallen lässt, ist raus. Wer Tiergatter statt zu öffnen und wieder zu schließen überspringt oder überklettert, ebenso. „Wenn das einer tut, tut das dem Gatter nichts. Aber wenn 240 Leute möglichst schnell über ein Holzgatter klettern, ist das Gatter danach nicht mehr da.“ Und auch wenn die Grundbesitzer der Inseln (malerisch!) es bis auf exakt einen – „das ist die einzige Strecke, wo wir nicht von Insel zu Insel schwimmen, sondern den Strand entlang“ sagt Michael Lemmel beim Briefing – super finden, dass da 120 Paare in Neoprenanzügen und mit seltsamer Ausrüstung über ihr Land fegen, ist den Schweden eines wichtig: Dass das Wandern (also Laufen) und der Zugang zum Meer im schwedischen Küstengebiet jeder Mensch auch weiterhin frei möglich ist. Rebellische Grundbesitzer wären da eher wenig hilfreich.
Vor allem, weil Swimrun-Events in Schweden schon jetzt groß und ziemlich sicher bald auch in Europa das das „next big thing“ sind. Klar: Aquathlon gibt es schon viel länger. Aber seit und mit dem Ötillö explodiert da etwas: „Bis vor fünf oder sechs Jahren war der Marathon das, was jeder einmal gemacht haben wollte“, erklärt etwa Ida Enstedt. Enstedt ist bei Garmin-Schweden, einem der Hauptsponsoren des Ötillö, für Events und Marketing zuständig – und nicht nur selbst Swimrun-Enthusiastin: Schon ihr beiden Söhne – acht und zehn Jahre alt – düsen mit lauftauglichen Wetsuits bei Göteborg durch die Gegend. „Vor ein paar Jahren hätte man noch mit dem Finger auf die Leute gezeigt – heute siehst du in Schweden ständig Menschen, die für einen Swimrun trainieren“.
Streng genommen ist Swimrun ja wirklich nix Anderes als Aquathlon mit Trail-Elementen. Aber eben nur beinahe: Wer 50-mal und an unterschiedlichen Orten vom Land ins Wasser oder vom Wasser ans Land geht, kann schließlich nichts in der Wechselzone deponieren. Also schwimmt man mit Laufschuhen – und rennt im Neo. Um die Beine zu schonen, schwimmt man praktisch nur mit Armzügen – dafür aber mit Paddles. Die Beine „entlastet“ man hinaus im Wasser mit Pullbuoys oder anderen Auftriebskörpern. Manche Schwimmer haben auch Flossen mit – nur muss man die dann beim Laufen eben irgendwie zwischen Neo und Startnummer bekommen. Und 20 Kilometer im Neoprenanzug rennen, wenn einem die Sonne so richtig schön auf den schwarzen Gummi brennt, sind auch schon ohne Flossen … und so weiter.
Der Ötillö ist dann noch ein Stück härter. Nicht bloß aus Marketing- und Imagegründen: Auch, weil die Nachfrage nach Startplätzen das Angebot längst um ein Vielfaches übersteigt. Heuer standen über 600 Teams auf der Warteliste – und das, obwohl der Event außerhalb Schwedens außerhalb der Hardcore-Tri-Szene de facto unbekannt ist. Auch wenn die Veranstalter heuer stolz von Teilnehmern und Teilnehmerinnen aus 21 Nationen sprechen: Swimrun ist durch und durch schwedisch. Ein paar Freaks aus Frankreich und Deutschland und versprengte „Einzeltäter“ (mit Großteils emotionalem, beruflichem oder familiärem Bezug nach Schweden) ändern daran wenig.
Noch. Denn die Ötillö-Macher wissen natürlich ganz genau, dass das Potenzial enorm ist. Nicht nur in Schweden, sondern überall, wo Multi- und Ausdauersport boomen und Startplätze für Triathlons in „menschlichen“ Distanzen oft rascher weg sind, als Tickets für das Neujahrskonzert. Darum wird der Event vor Stockholm nun global medial als „World Championship“ positioniert – und eine Reihe von kleineren oder anderen Ötillö-Läufern sollen als „Qualifying“-Läufe dienen. In Schweden – aber auch im Rest der Welt.
Der besteht derzeit zwar nur aus je einem Event auf der Isle of Scilly, einem im Engadin und einem in der Mecklenburgischen Seenplatte – aber: Da kommt was. Und zwar gewaltig. Wenn schon nicht zwingend unter dem Signet „Ötillö“, dann eben als „Swimrun“ – und dass es in Österreich da bislang noch so gar nichts gibt, verwundert die, die jetzt schon dabei sind: Das beste deutsche Team (André Hook und Wolfgang Grohe) kam Montagnachmittag nur wenige Sekunden nach Hawaii-Ironman-Superstar Faris Al-Sultan ins Ziel. Als 14. Trainiert wird – wenn es sich irgendwie machen lässt – in Österreich. „Eigentlich müsste Österreich eine Swimrun-Großmacht sein“, erklärten der Potsdamer und der Hannoveraner. „Bergseen und die alpine, anspruchsvolle Landschaft – das habt ihr ja alles. Und zwar nicht zu knapp.“ Und malerisch ist es in Österreich ja auch …
Grohe und Hook hatten eigentlich vor gehabt unter die Top Ten zu kommen. Dass es „nur“ der 14 Platz wurde lag aber nicht an ihnen oder ihrer Zeit. Die verbesserten sie im Vergleich zum Vorjahr – da waren sie achte geworden – nämlich um satte zehn Minuten. Das Niveau der Teilnehmenden Teams ist aber mittlerweile so hoch, dass etliche die da ihre eigene PB unterboten, im Gesamtklassement 2016 dennoch weiter hinten gereiht sind, als zuvor.
Das spürte auch der – außerhalb Schwedens – wohl bekannteste Teilnehmer des Events, Faris al-Sultan. Der Ironman-Sieger ging, nachdem sein ursprünglich geplanter Partner kurzfristig ausgefallen war, mit dem in der schwedischen Szene richtig berühmten Swimrunner Peter Oom an den Start. Aber so wirklich glücklich wurden Oom und al-Sultan beim Trail über die Felsen und beim Kampf mit den Strömungen nicht: Ja, Oom kämpfte mit gesundheitlichen Problemen – speziell beim Laufen – aber das allein, räumte Faris al-Sultan ein, als er nach 9 Stunden und 19 Minuten als 13er und knapp 80 Minuten nach den Siegern endlich im Ziel war, sei es nicht gewesen: „A terrific experience – but definitely not my cup of tea“ keuchte er unmittelbar nach der Ziellinie in Mikro und Kamera der schwedischen Live-Übertragung des Events. Und präzisierte später, dass Distanzen, Temperaturen und Wechsel ihm mehr abverlangt hätten, als er gedacht hätte. Und dass er jedem und jeder, der oder die sich hier auf die Strecke wage, den allergrößten Respekt entgegenbrächte. Und wenn man in seine Augen sah, war klar: Das war mehr als bloße Höflichkeit.
Umso größer war der Jubel aller, die es hörten: Von 120 gestarteten Teams waren heuer erstmals über 100 auch ins Ziel gekommen. 110. Die Zeitnehmung fror nach dem letzten Paar bei 14 Stunden 8 Minuten und 26 Sekunden ein. Und trotzdem waren auch diese Finisher Sieger. So wie alle, die sich 14 Stunden zuvor in jenes Rennen geworfen hatten, in das Anders Malm elf Jahre zuvor das erste Mal gegangen war – und seither glücklich ist, durch das Verlieren zum Sieger geworden zu sein: Weil es den Ötillö sonst nicht gäbe.
Anmerkung der Redaktion:
Thomas Rottenberg war auf Einladung der Veranstalter in Schweden. Aufgrund einer langwierigen Verletzung musste er auf den Start verzichten. Wie es sich anfühlt bei so einem Event nur zusehen zu dürfen, erzählt er kommende Woche in seinem Laufblog „rotte rennt“ auf derstandard.at. Nächstes Jahr will er starten. Koste es was es wolle.