1. Nachrichten
  2. Sport
  3. Mehr Sport
  4. Sport: Deutschland, eilig Triathland!

FOCUS Magazin | Nr. 33 (2019)
Sport: Deutschland, eilig Triathland!
  • E-Mail
  • Teilen
  • Mehr
  • Twitter
  • Drucken
  • Fehler melden
    Sie haben einen Fehler gefunden?
    Bitte markieren Sie die entsprechenden Wörter im Text. Mit nur zwei Klicks melden Sie den Fehler der Redaktion.
    In der Pflanze steckt keine Gentechnik
    Aber keine Sorge: Gentechnish verändert sind die
  • FOCUS-Magazin-Autor
Schwimmen. Radeln. Laufen. Leiden. Die Deutschen lieben das. Die Zahl der Triathleten und Triathlons steigt hierzulande rasant. Wer schnell sein will, braucht Disziplin, Geld und Willen. Das passt offenbar zur deutschen Mentalität

Triathlon ist sexy, abwechslungsreich, elitär und findet in den schönsten Regionen statt

Der Himmel ist zum Greifen nah. Eingebettet zwischen Weißhorn und Schwarzhorn, erhebt sich der Jochgrimm-Pass bis auf knapp 2000 Meter in die Höhe. Laura Lindemann sitzt auf ihrem 10000-Euro-Rennrad und strampelt, dass ihr der Schweiß aus den Poren rinnt.

Es sind glutheiße 50 Grad Celsius bei 80 Prozent Luftfeuchte. Die 23-jährige Brandenburgerin hat sich ins Südtiroler Trentino zum Höhentraining zurückgezogen. Sie ist die große deutsche Triathlon-Hoffnung auf der olympischen Distanz. An die schwierigen Bedingungen muss sie sich gleichwohl erst mal gewöhnen; immerhin duftet es ganz angenehm nach Holz.

Anfang Juli ist Laura Lindemann in Hamburg überraschend Vizeweltmeisterin mit der Mixed-Staffel geworden. Im kommenden Jahr hat der Teamwettbewerb in Tokio olympische Premiere. Lindemann will dort eine Medaille holen. Deshalb radelt, läuft und schwimmt sie 350 Tage im Jahr. Triathlon ist ein brutaler Ausdauersport, ein Sport, der nicht deutscher sein könnte.

Befeuert von fünf deutschen Siegen zwischen 2014 und 2018 beim Ironman-Spektakel auf Hawaii, verzeichnet die Deutsche Triathlon-Union zweistellige Zuwachsraten bei ihren Mitgliedern. Kein anderer Spitzenverband erfährt mehr Zuspruch. Deutschland ist Triathlon-Land. Waren 2002 noch 23000 Triathleten im Verband gemeldet, verdreifachte sich die Zahl auf aktuell 60000. Etwa die Hälfte davon besitzen sogar eine Ganzjahres-Lizenz, starten also fünf- bis sechsmal pro Jahr bei einem großen (3,8 km Schwimmen, 180 km Radfahren und 42,195 km Laufen) oder auch bei einem kleinen Triathlon (500 m, 20 km, 5 km).

Auf dem Terrassentisch in Essen-Bredeney stehen Wasserflaschen und zwei Schalen mit Cashewkernen und Walnüssen. Die Gastgeber tragen orangefarbene Hightech-Sportuhren am Handgelenk. Die 600 Euro teuren Chronographen, die jede Menge sportrelevante Daten sammeln, sind das Erkennungsmerkmal von passionierten Triathleten. Handschriftliche Buchführung und lange Excel-Tabellen waren gestern. Seit den Neunzigern sind Steffi Borchers und Markus Kriege Mitglieder im TRC Essen 84, einem der ältesten Triathlon-Clubs des Landes.

„Als Triathlet muss man schon Masochist sein und auch Schmerzen sehr gut aushalten können“, sagt Unfallchirurgin Borchers trocken. Die 51-Jährige trägt Kurzhaarschnitt und randlose Brille. Ihre Schultern sind scharfkantig. In ihrer Garage stehen gleich fünf Rennräder, an denen sie selbst herumschraubt. „Es gibt immer was zu tun.“ Triathleten sind ausgewiesene Tüftler.

Wer im Dreikampf zu Wasser und zu Lande mithalten will, steckt schnell 15000 Euro in sein Equipment. Für jede der drei Disziplinen gibt es eine schier endlose Zahl von Produkten, die Athleten schneller und kraftsparender ans Ziel bringen sollen. Carbon-Rennrad 10000, Helm 200, Brille 140, Kurzflossen 40, Neoprenanzug 500, Schwimmbrille 30, Laufschuhe 150 Euro. Kein Wunder, dass die Sportindustrie diese Disziplin so gern fördert. Erstens sind die meisten Triathleten im besten Konsumentenalter und verdienen überdurchschnittlich gut, zweitens ist Deutschland neben den USA, der Schweiz und Australien der Kernmarkt für entsprechende Produkte. Derweil wird Triathlon auch für Sponsoren immer interessanter. Der Sport ist sexy, trendy, abwechslungsreich, in jedem Alter erlernbar, ein wenig elitär und findet in den schönsten Urlaubsregionen statt.

„In jedem Unternehmen macht heute mindestens ein Mitarbeiter Triathlon. Mittlerweile ist es deshalb auch sehr viel leichter, Sponsoren zu gwinnen“, sagt Vizeweltmeisterin Lindemann und ergänzt schmunzelnd, „Triathlon hat Kultstatus. Damit kannst du ein bisschen angeben.“ Doppel-Ironman-Sieger Patrick Lange lobt die charakterlichen Qualitäten der „Eisenmänner“. „In der Berufswelt kannst du damit zeigen: Ich bin ein leistungsfähiger Typ, ich schrecke vor keiner noch so großen Aufgabe zurück“, sagt der 32-jährige Darmstädter. Er glaubt, Triathlon entwickelt die Persönlichkeit und verändert die Seele. Triathlon macht Sieger!

Der typische deutsche Triathlet ist männlich (70 Prozent) und im Schnitt 38 Jahre alt. Er ist berufstätig (80 Prozent sind vollbeschäftigt) und sehr gut gebildet (drei Viertel haben Abitur oder studiert). Nach Angaben der Deutschen Triathlon-Union gelten Dreikämpfer zudem als diszipliniert, leistungsorientiert und geben Jahr für Jahr rund 2500 Euro für ihren Sport aus. Zu einem ähnlichen Fazit kommt eine Studie der Uni Regensburg unter Langdistanz-Athleten. Diese zeichnen sich demnach durch eine stark leistungsorientierte Persönlichkeit, Disziplin, Willensstärke, Zielstrebigkeit und Organisationstalent aus.

„Ausdauer, Geld, Schmerzresistenz, Strukturiertheit und dazu gute Trainingsmöglichkeiten – Triathlon ist ein sehr deutscher Sport“, findet Markus Kriege. Der Essener Architekt war schon Europameister in seiner Altersklasse, nahm sechsmal am Ironman auf Hawaii teil und erreichte dort als bestes Resultat Platz fünf. „Deutsche bringen einfach sehr gute Voraussetzungen für den Triathlon mit.“

Der 53-Jährige sieht eigentlich eher wie ein Surfer aus. Groß, schlank, nackenlanges blondes Haar, gesunde Bräune, schneeweiße Zähne. An seinem Körper kein Gramm Fett. Er sagt, Triathlon ist sein Leben. Die Ehefrau, eine Ökotrophologin, hat seine Ernährung auf Hanfproteine umgestellt. Die schmalen Lippen zeugen davon, dass Markus Kriege eine Menge Schmerzen aushalten kann. In der Woche schwimmt er 12, radelt 300 und läuft bis zu 80 Kilometer. Vereinskollegin Steffi Borchers kommt auf 10 Kilometer Schwimmen, 350 Radfahren und 15 Laufen.

Mit drei bis fünf Stunden Training pro Woche lässt sich ein Jedermann-Triathlon gut bewältigen. Langdistanzler trainieren mindestens zehn Stunden pro Woche. Profi-Triathleten kommen auf deutlich über 25 Stunden pro Woche, oft sogar über 30. Hawaii-Starter schinden sich etwa 15 bis 25 Stunden; ihr Aufwand variiert über das Jahr. Je mehr Talent jemand hat und je besser die Technik des Bewegungsablaufs ist, desto weniger Umfang ist nötig. Triathlon bildet den Körper rundum athletisch aus. Vom guten Körpergefühl profitieren Triathleten auch im Alltag.

Wer wie Steffi Borchers und Markus Kriege den Sport semiprofessionell betreibt, muss im Privatleben deutliche Abstriche machen. Familie und Freunde passen kaum noch ins Zeitbudget. Zumal sich Triathleten oft schon ein Jahr vor einem großen Langdistanz-Wettkampf isolieren und sämtliche Familienfeiern und Kneipenbesuche absagen. Der Exzess bleibt dem Sport vorbehalten.

„Ich habe wenig Zeit und bin froh, dass mein Partner Golf spielt“, sagt Steffi Borchers. „Der Partner eines Triathleten muss schon viel Verständnis aufbringen.“ Markus Kriege greift sich ein paar Nüsschen aus der Schale und meint: „Unser Sport ist Bestätigung und auch Selbsttherapie. Wenn ich länger keinen Sport gemacht habe, steigt in mir der innere Druck.“ Klingt, als wäre es auch für alle anderen Menschen in seinem Umfeld besser, dass Kriege seiner Leidenschaft nachgeht.

Triathlon ist viel mehr als ein Ausdauersport, der die Freizeit füllt. Viele spätberufene Dreikämpfer haben das Gefühl, dass in ihrem Leben noch etwas fehlt, dass mehr Feuer und Rausch hermüsse und sie sich selbst mehr spüren wollen. Triathlon passt perfekt in diese Lücke. Das hat auch etwas mit Sinnstiftung zu tun. In den verschiedenen Altersklassen haben die Athleten oft erst mit 30 oder 40 Lebensjahren begonnen. Weil Triathlon so extrem ist, schüttet der Körper im Ziel besonders viele Endorphine aus. „Das Hoch fühle ich noch eine ganze Woche“, sagt Top-Triathletin Lindemann. Die Essenerin Borchers bestätigt: „Das Glücksgefühl hält sehr, sehr lange an.“

In der deutschen Mittel- und Oberschicht ist der Triathlon mehr noch Identität als Aktivität. In diesen Kreisen kann man schon lange nicht mehr mit einem neu gekauften Porsche glänzen. Sportliche Höchstleistung als Statussymbol kommt auch auf Social Media besser rüber. Wenn man so will, ist Triathlon ein perfekter Angebersport.

Allein wegen des Trainingsaufwands ist Triathlon mehr als nur ein Sport; er bestimmt, was man isst, wann man schläft, wie man sich kleidet, wohin man in Urlaub fährt, mit wem man befreundet ist. Es ist ein Lebensstil. Eine Geisteshaltung.

Bundesweit finden alljährlich 2000 Triathlon-Rennen bei 630 Veranstaltungen statt. Das macht rund 270000 Starter. Allein 10000 treten in Hamburg, 4000 in Köln und 3300 im fränkischen Roth an. Nicht nur in Roth sind die Startplätze innerhalb weniger Minuten komplett ausgebucht, wenn die Franken ein Jahr vor dem Start die Online-Anmeldung freischalten. Wer dabei ist, ist Teil der Elite und zugleich auf einem irren Selbsterfahrungstrip.

Beim ersten von sechs Ironman-Starts auf Hawaii wollte der Essener Markus Kriege sein Rad schon wütend in die Vulkanfelder schleudern, konnte sich aber gerade noch beherrschen. Nach 30 Kilometern war ihm ein Reifen geplatzt. Weil er den Schlauchwechsel nicht geübt hatte, mussten ihm die Leute vom Materialwagen helfen. Kriege verlor 30 Minuten. Im Gegensatz zu seiner Clubkollegin lief der verzweifelte Ironman aber immerhin noch bis ins Ziel.

Steffi Borchers stieg bei ihrem ersten Langdistanz-Rennen nach 90 Kilometern tatsächlich aus dem Sattel. Weil ihr der Brillengummi gerissen war, kam sie mit satter Verspätung aus dem Wasser und ärgerte sich so sehr darüber, dass sie entnervt aufgab. „Da muss man ruhig bleiben, darf sich nicht im Detail verstricken oder das Ziel aus den Augen verlieren“, analysiert der erfahrene Kriege nüchtern. „Einen Triathlon verliert man immer gegen sich selbst.“ Eine Triathlon-Faustregel lautet: 80 Prozent macht der Kopf.

Radunfälle, verrutschte Kontaktlinsen, gebrochene Gangschaltungen, Starkregen, Hagel, Sturm, Ellenbogenschläge gegen den Kopf, extremer Wellengang und vertauschte Schuhe. „Beim Triathlon kann alles passieren: Stau im Wasser, Stürze, verpatzte Wechsel, zu kaltes oder zu heißes Wetter“, sagt die Brandenburger Triathletin Laura Lindemann. Man muss immer das Unerwartete erwarten. Und damit klarkommen, dass von einer Sekunde auf die andere ein Jahr Vorbereitung zum Teufel ist. Da ist Triathlon nicht anders als das Leben. „Man kann da nicht Kacheln zählen wie im Schwimmbad oder gedanklich in seine eigene Welt abtauchen“, sagt Lindemann. Früher war sie Schwimmerin. 100 Meter Brust. Ihr Rennen war nach einer Minute vorbei. Triathlon hielt sie für langweilig. Jetzt weiß sie: „Man muss immer konzentriert bleiben und sich den Rennsituationen anpassen.“

Oder sie gar vorausempfinden. Wie beim Training in Südtirol. Sie schaut nach vorn, auf glühende Kohlen, immer noch 50 Grad Celsius, 80 Prozent Luftfeuchte. So wird das kommendes Jahr bei den Olympischen Spielen in Tokio vermutlich auch sein. Eine Dreiviertelstunde gibt sich Laura Lindemann diese Tortur, dann wird sie erlöst. Mit rotem Kopf klettert sie von ihrem 10000-Euro-Rad, das ihr Trainer auf Rollen montiert hat – und verlässt die Sauna des Berghotels.

Axel Wolfsgruber

60000 Triathleten sind in der Deutschen Triathlon-Union organisiert. Davon besitzen 27000 eine Lizenz für das ganze Jahr und starten jährlich bei mehreren Rennen

2500 Euro gibt ein Triathlet hierzulande im Jahr für seine Ausrüstung aus. Damit gehört Deutschland zu den Kernmärkten für Produkte rund um den Triathlon

10000 Kalorien verbraucht ein Teilnehmer beim Ironman auf Hawaii. Das entspricht 20 Big Macs, 28 Tellern Spaghetti mit Tomatensauce oder 200 Gurken

Sie waren einige Zeit inaktiv, Ihr zuletzt gelesener Artikel wurde hier für Sie gemerkt.
Zurück zum Artikel Zur Startseite
Lesen Sie auch
Bahn untersagt Cannabis-Konsum an Bahnhöfen

Drogen

Bahn untersagt Cannabis-Konsum an Bahnhöfen

Einsteigen in Karlsruhe Hauptbahnhof - nach drei Stunden Croissants frühstücken in Paris

Einsteigen in Karlsruhe Hauptbahnhof - nach drei Stunden Croissants frühstücken in Paris